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21. April 2015
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Durch die Ritzen meines Küchenfensters kroch Gevatter Tod zu mir ins Zimmer. Er setzte sich mir gegenüber an meinen kleinen Marmortisch und schien in redseliger Laune.
„Kommst du mich holen?“, fragte ich.
„Nein, heute noch nicht“, sprach’s und zündete sich eine Pfeife an. „Hatte in der Nähe zu tun und dachte, ich schau auf ein Gläschen vorbei.“
„Rot oder weiß?“
„Rot, bitte“, er kicherte. „Ich trinke immer rot.“
Der warme Tabakqualm füllte gemächlich meine kleine Küche – ein weicher, süßlicher Geruch nach Orient, Vergangenheit und Erinnerungen.
Ich öffnete meine beste Flasche und schenkte ein. Wir stießen an. „Aufs Leben!“, sagte Gevatter Tod.
Ich musste lachen und antwortete: „Und auf ein leichtherziges Sterben.“ Er wiegte den Kopf, lächelte und sagte: „Wahr gesprochen.“ Und weiter: „Eben komme ich von einem schwierigen Fall. Weit über 90, längst ein völliges Wrack. Aber geklammert hat der! Ganz so, als sei er in seinen besten Jahren.“ „Vielleicht hatte er noch etwas vor?“ „Nein, der nicht. Der hatte nie etwas vor.“ „Dann war vielleicht gerade das sein Problem?“
„Wahrscheinlich“, sagte Tod, „vermutlich hast du recht. Nichts vor, nichts getan außer dem Nötigsten. Und dann klammern sie. Glauben, sie hätten was versäumt, und hoffen auf das große Wunder am Schluss.“
Er klang frustriert und im Moment wusste ich nicht, was ich darauf sagen sollte.
Gevatter Tod sah mir in die Augen. „Du hast keine Angst vor mir, stimmt’s?“
„Sollte ich?“ „Nun, es ist zumindest ungewöhnlich.“
„Stimmt“, sagte ich, nun nachdenklich geworden. „Aber weißt du, ich habe immer so viel zu tun, viel vor, ganz anders als dein Kunde heute. Kann gut sein, dass ich es kaum bemerke, wenn du mich einmal wirklich abholen wirst.“ „Ach, das merkst du sicher.“ „Das weißt du natürlich besser als ich“, gab ich zu, „aber vielleicht ist’s bis dorthin ja auch einfach genug.“
„Bestimmt!“, meinte er nun munter. „Ganz bestimmt ist es so. Ich komme nie zu früh, ich komme immer im richtigen Moment.“
„Gut zu wissen“, sagte ich. „Und eigentlich habe ich mir das immer gedacht. Deshalb vielleicht habe ich keine Angst vor dir. In dieser Sache habe ich dir immer vertraut.“ Und nach kurzem Nachdenken setzte ich noch hinzu: „Und alles weitere, das wir glauben noch machen zu müssen, ist vermutlich nur Eitelkeit.“ „Wahr gesprochen“, sagte er zufrieden. Wir stießen darauf an.
„Trotzdem“, wendete ich ein, „würde es mich interessieren, warum du heute gerade zu mir in meine kleine Küche gekommen bist.“
„Ich komme“, er hob nun ein wenig seine Stimme, „weil ich bei dir ein Bild in Auftrag geben möchte.“ „Kannst du bezahlen?“
„In Lebenszeit, wenn dir das recht wäre.“
„Ab heute oder drangehängt am Schluss?“
„Aber nein!“, sagte er erstaunt. „Am Schluss, das wäre gemein. Zynisch sogar. Nein, ab heute fünf Jahre Leben, ohne jede Gefahr zu sterben. Egal, was du machst. Du sollst die Zeit ja noch in der Fülle deines Lebens genießen können.“ „Ich verstehe“, sagte ich. „Es kommt zwar insgesamt aufs selbe raus wie drangehängt ans Ganze – aber ich kann fünf Jahre lang auf Teufel komm raus alle Verrücktheiten machen, ohne Schaden zu leiden?“
„Erfasst“, sagte er, „dein Körper wird so unversehrt sein wie heute.“
„Also halbwegs in Ordnung.“
„So, wie du heute bist.“
Nach kurzem Nachdenken sagte ich: „Das ist ein faires Angebot. Und welches Bild soll ich machen?“ „Ein vergessenes Sujet. Seit Baldung GrienWikipedia: Hans Baldung hat es niemand mehr richtig gemalt.“
Er machte eine kurze Pause und sagte dann: „Das Sujet, das du malen sollst, heißt: Der Tod und das junge Mädchen.“
Ich fixierte ihn eine Weile. In seinen Augenwinkeln hatten sich leise Lachfältchen gebildet. Dann sagte ich: „Vermischt mit dem Sündenfall. Das meinst du doch?“ Er hob die Augenbrauen und sagte:
„Ich wusste, dass du die Richtige bist für diesen Job.“
„In Ordnung“, sagte ich.
Wir schlugen ein. „Die Zeit läuft ab heute?“, fragte ich.
„Ab morgen. Ich bin kulant. Heute trinken wir.“
„Vermutlich brauche ich die fünf Jahre, um das Bild richtig zu malen, soll es eine würdige Nachfolge von Baldung Griens Bildern sein.“
„Vermutlich“, nun wurde sein Lächeln zu einem Grinsen.
Er amüsierte mich. Ja, dachte ich bei mir, das ist gut. Ich kann nun losstürmen, mich in Gefahren und Abenteuer stürzen, an alle Grenzen gehen – so lange, bis ich den Kuss des Todes fast auf meinen Lippen spüre …
„Das wird mein bestes Bild“, sagte ich laut.
„Dessen bin ich sicher“, meinte Gevatter Tod.
Wir saßen noch eine Weile beisammen und plauderten über dies und das.
Ich ging eben in meine Speisekammer, um eine weitere Flasche Wein zu holen, als ich sein Hinausziehen durchs Fenster spürte. Ein kühler Hauch. Nur der Geruch des Tabaks blieb zurück. Ich öffnete den Wein und schenkte mir ein. Wahrscheinlich, dachte ich, wäre heute mein letzter Tag gewesen. Ich feierte also nun mit mir allein meinen vermutlich in Wahrheit letzten Tag. Und die Entscheidung meiner Jugendtage, mein Dasein der Malerei zu widmen. Lieber als ein ewiger Tod im Leben sind mir fünf Jahre Abenteuer, Arbeit und Schluss.
Müllerstraße, Innsbruck, 5. Dezember 2013