Lost to regain 04 – Der zahnlose Löwe

Maria Peters, 14. Juni 2016

In einem Backsteinhaus in Camburg treffe ich eine 100 jährige. Sie hat Schmerzen. Sie erblindet. Sie erlebt alles in völliger Klarheit. Ich hatte den Eindruck, sie langweilt sich in unserer Welt.

Eine Kellnerin warnte mich vor den Horden von Flüchtlingen, die hier unterwegs seien. Im Wald traf ich sie bisher nicht. Ohnehin sieht man hier nicht sehr viele erkennbare Einwanderer. In Jena schon, aber in den Dörfern kaum.
In Naumburg erzählte mir später der dortige Vermieter leben nur 2,3% ausländischstämmige Bürger. 80% davon stammen aus der EU. Trotzdem haben die Menschen auch hier das Gefühl überfremdet zu werden.

DenkmalMitHund

Wie wird Landschaft gesehen?
Die Landschaft als Kulisse. So sehen wir sie wohl. Als sei sie nur Dekoration für uns, ein schönes Fotomotiv, ein Hintergrund. Und als sei die Landschaft nur eine Übergangszone. Zwischen unseren Häusern oder den Städten.
Doch eigentlich ist es umgekehrt. Wir sitzen inmitten unserer Lebens- und Nahrungsquelle. Sitzen quasi im Teller. Wie eingesperrte Schweine, blindlings wütend im Futtertrog.

Die Saale entlang bis Kaatchen und weiter zur Burg Saaleck. Dort sah ich eine sehr kleine, Spielzeugausstellung. Die meisten Exponate waren aus der DDR-Zeit. Weiter bis zur Rudelsburg war es nur mehr ein kleines Stück. Am Weg liegen jedoch drei Denkmäler. Ein Bismarckdenkmal, ein Denkmal für Wilhelm I. und das Löwendenkmal, das ist ein Denkmal für Kriegshelden, das mich sehr begeisterte. Es gab einen Rastplatz mit Bänken und einem Tisch und ich machte eine flotte Skizze. Der steinerne Löwe, er ist laut Unterweisungstafel hier das Symbol für die Helden, hat keine Zähne. Ein zahnloser Löwe.
War es das Unvermögen des Künstlers oder ist es eine subversive Botschaft an die Nachwelt?

Loewendenkmal

Ich umkreiste das Denkmal und fand eine Inschrift. Die Schrift ist meiner Handschrift, wenn ich in meinen Ausstellungen mit Pinsel auf Wände schreibe, sehr ähnlich. „Als sich alle noch aneinander erinnerten“ stand zu lesen. Ich bekam Gänsehaut.
Ich konnte das Gefühl, dass diese Botschaft an mich gerichtet ist nicht abschütteln. Es tauchen „Erinnerungen“ in meinem Inneren auf, die eigentlich keine Erinnerungen sein können. Die ich nicht erlebt habe. Doch sie sind sie da. Es sind keine Träume.
Bisher nahm ich das einfach hin. Doch nun, angesichts dieser Inschrift, ändert sich die Situation. Denn diese Inschrift lebt nicht nur in meinem Kopf. Sie ist real.

Inschrift  AbbildDesWegesImKopf

Im Wirtshaus auf der Rudelsburg aß ich zu Mittag. Fünf ältere Ehepaare saßen in der Gaststube beim Essen. Jedes der Paare saß an einem eigenen Tisch. Und immer saßen Frau und Mann an nur einer Tischseite nebeneinander. Dabei sprachen sie miteinander. Was seltsam aussah. Denn sie konnten sich ja in dieser Sitzposition schwer in die Augen sehen, sie sprachen also jeweils in den leeren Raum oder mit ihrem Teller.

Übernachtung in Bad Kössen in einer gemütlichen Pension. Am Fluss hat der Hausbesitzer einen schönen Sitzplatz für die Gäste eingerichtet. Ich besorgte mir einen Imbiss und eine kleine Flasche Wein und machte es mir dort gemütlich. Bald kamen zwei Schwestern, die sich zu mir gesellten. Mit der einen, eine gelernte Bibliothekarin, habe ich mich eine Weile sehr nett unterhalten. Etwas später gingen die beiden Schwestern weg und ein älterer Herr kam zu mir. Er sei 85 Jahre alt, erzählte er mir. Er sei hier auf Urlaub, um sich von der Fürsorge und dem allzu gesunden Essen daheim bei seiner Schwiegertochter zu erholen. Mit verschmitztem Gesicht erzählte er mir das. Er trank genüsslich ein Bier und aß einen sehr gehaltvoll aussehenden Wurstaufstrich mit Weißbrot.
In seiner berufstätigen Zeit besaß er ein Malergeschäft. Nach dem Zusammenbruch der DDR konnte er das Geschäft gerade noch bis zu seiner Pension erhalten. Im vergangenen Jahr zogen er und seine schon pflegebedürftige Frau dann zu Sohn und Schwiegertochter. Seine Frau starb kurz darauf. Etwas mehr als sechzig Jahre hatten sie gemeinsam verlebt.
Er meinte, es sei vernünftig gewesen, zu seinem Sohn zu ziehen. Sein großer Freundeskreis von früher sterbe ohnehin langsam aus. Er meinte: „Und nur ich bin nun übrig geblieben.“

SaaleuferCamburg

Schulpforta

Vorbei am Zisterzienserkloster Schulpforta, jene Eliteschule, die auch Nietzsche besucht hatte. Die Alte Saale entlang durch einen schönen Wald, war ich rasch in Naumburg. Viel zu früh, um mein vorbestelltes Appartement zu beziehen, stärkte ich mich zuerst in einem Gasthof und besichtigte dann in aller Ruhe den Dom zu Naumburg. Die Stifterfiguren des Naumburger Meisters sehe ich zum ersten Mal im Original. Ihre Berühmtheit kann ich nun verstehen. Uta ist schön, aber Reglindis ist meine Favoritin. Ich mag ihr Lachen und den Schalk in ihren Augen.
Die Glasmalereien von Neo Rauch in der Elisabethkapelle sind gut. Hier ist Andacht möglich. Den Bilderreichtum der Katholischen Kirche schätze ich sehr.

SchlangeUndSchildkroete_DomNaumburg   NeoRauch_Fenster

Drei Nächte an einem Ort zu verbringen, ist angenehm. So vieles ist zu notieren und aufzuarbeiten. Male zu wenig. Das Gehen verschlingt die Zeit. Zugleich jedoch kann ich so das Land und die Menschen beobachten. Und darum geht es ja eigentlich in dieser Geschichte. Denn es sind nie die Systeme oder Ideologien, die unsere Welt besser machen. Es sind Einzelne. Jene, die vielleicht etwas mutiger als andere geboren sind. Die Visionen haben. Die sich konzentrieren.
Gastronomen, Firmen, Initiativen. Ich treffe hier bewundernswerte Menschen. Könnte jetzt schon Seiten füllen mit ihren Geschichten. Notiere alles in meinem Notizbuch. Von Hand.

Ein besonderes Erlebnis in Naumburg war das Marientor, das eine kleine Wehranlage ist. Am Eingang ist ein Münzautomat, so wie man ihn manchmal noch an öffentlichen Toiletten findet. Ich steckte also eine 50 Cent Münze rein und öffnete die Tür. Vollkommen alleine, es war Sonntagvormittag, konnte ich nun durch die Räume und den Wehrgang wandeln. Strich mit der Hand unbeobachtet entlang der liebevoll gekalkten Mauern des Wehrgangs. Still war es.

Wehrgang 



Maria Peters, 14. Juni 2016


17 Kommentare

  • Helmu tSchiestl sagt:

    Schön. Gefällt mir diese lange Gehen und Beobachten. In Jena war ich auch mal vor einigen Jahren. Der Namen des Bahnhofs hat mich auch belustigt: „Paradies“. Aber vielleicht muss man sich das Paradies eben genau so vorstellen.

    • Maria Peters sagt:

      Matt Ruff schrieb einmal über das Paradies den schönen Satz:
      Das Paradies ist ereignislos, und gerade deshalb vollkommen.
      Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir dorthin wünsche.
      Doch Jena mit seinen drei Paradiesen ist schon erstaunlich. Ich sah mir auch eine (Kinder-)vorführung im Planetarium an. Reiste also auch mit einem Raumschimff druchs Weltall zu Mars, Saturn und Sonne und sah die dabei die Erde von oben. Das war sehr schön. Ins Weltall würde ich gerne einmal reisen. Auch wenn das zu Fuß leider nicht möglich ist. Gehen ist schön. Ein Land erschließt sich anders.

  • Martin Hurmann sagt:

    Brichst du auf gen Osten. ..
    wünsche dir oft genug guten Kaffee. ..
    dein Denken möge hochgespannt sein. ..
    edle Regung deinen Geist und Körper anregen. ..
    beeile nur nicht deine Reise. ..
    (es sei denn unbelehrbare Ex-Stasisten kreuzen deinen Weg)
    immer halte Ithaka im Sinn. ..
    genug guten Kaffee. ..

    • Maria Peters sagt:

      Vorläfig Osten, später gen Norden. In vielen Lokalen gibt es hier mittlerweile guten Kaffee. In den Pensionen helfe ich mir morgens mit kaltem Nescafe aus dem Supermarkt aus. Suche nicht die Sonne, suche eine Aussöhnung mit der Realität. Aber ich bin mir nicht sicher, ob mir das gelingen wird.
      In welcher Region in der Welt bist Du eben unterwegs?

  • Ines sagt:

    Liebe Maria,
    schön dass wir dich auf diese weise begleiten dürfen durch die landschaft und dein reiches wahrnehmungsspektrum…gehen intensiviert das schauen, LG Ines

    • Maria Peters sagt:

      Danke fürs Dabeisein! Ja, gehen und auch das direkt Zeichnen. Befinde mich 12 Kilometer vor Leipzig. Werde diesmal nicht im Zentrum wohnen, sondern in einem sozial benachteiligten Viertel. Mulmig aber neugierig zugleich.
      Liebe Grüße Maria

  • lapa sagt:

    Liebe maria. Schoen, dass du uns so hautnah gteilnehmen laesst an deinen erlebnissen. Duhast dich gut vorbereitet siehst aber noch vieles dazu. Ich freue mich fuer dich. Alles gute Papa

  • Susanne Preglau sagt:

    Liebe Maria,
    die alte Frau und der zahnlose Löwe, wie traurig.
    Gestern war ich allein in einem Gastgarten in Kärnten Mittagessen – mir gegenüber ein älteres Ehepaar. Sie saßen einander zwar gegenüber, aber sie haben über eine halbe Stunde lang gar nichts gesprochen und einander auch nie (!) angesehen.
    Da war ich froh, allein zu sein und es gut zu haben.
    Deine Zeichnungen vom Flussufer und dem alten Schulgebäude haben mir richtig Lust gemacht, auch dort zu sein.
    Genieß deine Reise!
    Susanne

    • Maria Peters sagt:

      Ja, liebe Susanne, besser als sich anschweigen ist es alleine. Ich genieße dieses anonyme surfen durch ein Land. Bambi habe ich Dir geschickt. Ist geklebt. Schöne Zeit!

  • Gunter Bakay sagt:

    Liebe Freundin,
    sehe ich auf die Uhr am Computerbildschirm, dann weiß ich, dass du eben im langen Anmarsch auf Leipzig bist, – in ein sozial benachteiligtes Viertel, wie du in einer Kommentarantwort schreibst, mit mulmigem Gefühl.
    Nun, wenn einer eine Reise tut … prasselt die Wirklichkeit oft wie mit Hämmern auf ihn ein. Und das ist ja, was du (auch) immer wolltest; in deiner Arbeit, und allem übrigen, um jeden Preis …

    Wenn du dies liest also: Willkommen in Leipzig!
    Und keineswegs kann ich mich jetzt enthalten, jemanden zu zitieren, der von Intellektuellen gerne und oft ausgiebig gehasst wird, den ich aber trotzdem, oder vielleicht deswegen, gerne mag: Rilke.
    Zu den An- und Zumutungen der Wirklichkeit also folgendes für dich:

    Zwischen den Hämmern besteht
    unser Herz, wie die Zunge
    zwischen den Zähnen, die doch,
    dennoch, die preisende bleibt.

    So farewell meine Liebe, Gunter

    • Maria Peters sagt:

      Danke für die erbaulichen Worte. Ich mag Rilke. Ob ich eine Intellektuelle bin? Vielleicht bin ich dafür zu gerne mitten im Getümmel. Wir hören uns dann…

  • Wögerbauer Elisabeth sagt:

    Liebe Maria, ich reise in Gedanken mit dir. Obwohl um die halbe Welt gereist, war ich noch nie in Ostdeutschland- könnte auch was für mich sein. Liebe deine beschaulichen Beschreibungen der Gegend und die netten kleinen Beobachtungen. Bin beruhigt- Harald und ich sitzen im Gasthaus immer gegenüber oder übers Eck.
    Freu mich auf die Weiterreise.
    Liebe Grüße aus dem verregneten Innsbruck.
    Lisl

  • Susanne Preglau sagt:

    Danke, liebe Maria, Bambi ist gut angekommen und wartet auf dich, ganz in Ruhe nach deiner Reise. Alles Gute!
    Susanne

    • Maria Peters sagt:

      Ah, wie schön! Da freue ich mich darauf. Traf vorgestern ein Reh am Wiesenrand. Störte es beim Frühstück. Das tat mir sehr leid.
      Gute Zeit derweil Maria

  • Christine Prantauer sagt:

    Lb. Maria,
    der zahnlose Löwe und die wunderschöne Inschrift: „Als sich alle noch aneinander erinnerten“……. dafür allein würde sich eine Reise lohnen.
    Herzliche Grüße von hier noch dort
    Christine

    • Maria Peters sagt:

      Liebe Christine,
      da bin ich ganz Deiner Meinung. Aber ich finde noch so viel mehr. Kann ja während des Gehens nur einige wenige Punkte direkt bearbeiten. Ich werde mit vollen Reisekisten heimkommen.
      Habe ein, wie ich glaube, schönes Motiv für Dich gemalt.
      Es geht am Montag zur Post…
      Alles Liebe!
      Maria

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