Lost to regain 06 – Vorwärts und wieder zurück

Maria Peters, 29. Juni 2016

Lutherstadt Wittenberg ist sehr klein. Dafür dicht angefüllt mit Geschichte. Kommendes Jahr ist das 500 Jahre Reformation Jubiläum. Man sieht viele frisch und gut restaurierte Gebäude. Das Lutherhaus und das Schloss sind im Moment geschlossen.

Besonders eindrücklich ist die Schlosskirche, sie wurde im 16. Jahrhundert in einem Zug neu ausgestattet. Anstatt der Heiligenfiguren der katholischen Kirchen findet man hier die Kirchengelehrten der Reformation und unzählige Wappen jener Fürsten- und Königshäuser, welche damals bereits reformiert waren. Auch ein Chorgestühl gibt es, es war aber nicht für Mönche oder den Klerus vorgesehen, sondern Fürsten und Würdenträger konnten sich hier einen Platz erkaufen. Der Führer meinte, umgerechnet auf heute um etwa 100.000 €.

SchlosskircheWitten

Und auch das Haus von Melanchton gefiel mir besonders. Ein Bürgerhaus des 16. Jahrhunderts, man kann hier die Lebensart eines humanistischen Gelehrten jener Zeit gut nachempfinden. Die schönen Raumproportionen und das Licht in den Zimmern würden mir als Wohnambiente durchaus zusagen.

Im Luthermuseum ist natürlich die Geschichte der Reformation dargestellt. Viele Handschriften mit teils vortrefflichen Buchmalereien und auch Briefe kann man hier hautnah betrachten. Ergreifend.

Ganz besonders aber gefiel mir eine Sanduhr. Diese hat fünf Gläser. Die jeweils zwei äußeren sind mit Sand gefüllt, der jedoch am Boden der Gläser ruht. Das mittlere Glas ist leer. Diese Sanduhren lassen sich nicht umdrehen, sie sind unbeweglich und immer gleich. Über den Gläsern ist ein Ziffernblatt. Ohne Zeiger.
Und erst am nächsten Tag, als ich diese Uhr noch einmal auf einer kleinen Leinwand zeichnete, wurde mir klar, warum sie mich so gefesselt hatte, weil sie für mich persönlich die Funktion eines Tores erfüllt. Sie gewährte mir einen Blick in die Zukunft, in mein Jetzt und in die Vergangenheit zugleich. Die Vergangenheit steht still weil sie vorbei ist. Und die Zukunft weil sie bloß eine Möglichkeit ist. Das mittlere leere Glas jedoch ist die Gegenwart, die jeden Augenblick erst entstehen muss. Ein leeres Glas, das zu füllen die Aufgabe des Existierenden ist. Und die man niemals in Bewegung sieht, denn sobald man sie wahrnimmt, ist sie bereits vorbei.

Sanduhr


Reformation – Gegenreformation

EU – Brexit
Der Mensch geht vor und wieder zurück.

Ich konnte gut arbeiten in Wittenberg. Am zweiten Morgen ging ich ans Ufer der Elbe etwas außerhalb der Stadt. Ich zeichnete dort. Ein Angler fischte gleich neben mir. In der Ferne leises Donnern. Der Fischer packte in Eile seine Sachen ein. Ich fragte ihn, ob er glaubt, dass das Gewitter zu uns kommen wird. Er drängte mich sehr zum Gehen, das Gewitter käme rasch und es wird fürchterlich werden. Er schien in echter Sorge, ja sogar im Stress zu sein. Er bot mir an, mich mit dem Auto ein Stück in Richtung Stadt mitzunehmen. Ich fuhr also mit. Ging durch die Stadt zurück in mein Quartier und arbeitete im Zimmer. Das Wetter blieb den gesamten Tag schön.

AnglerWitten

ElbeWitten

Ich konnte auf meiner geplanten Route zwischen Wittenberg und Beelitz keine freien Zimmer finden. Einen ganzen Abend lang verbrachte ich umsonst mit der Suche. Dann plante ich um. Ich fuhr am Sonntag den 26. Juni mit der Bahn etwas weiter nach Osten, nach Jüterbog. Von dort aus über Luckenwalde war es möglich Quartiere zu buchen. Das erwies sich als großer Glücksfall, weil ich so in Luckenwalde die ehemalige Hutfabrik besuchen konnte. Ein architektonisches Juwel der 20iger Jahre vom Architekten Erich Mendelssohn. Um dorthin zu kommen ging ich durch das Industriegelände des Ortes. Zwischen verschiedenen Firmen, die in Betrieb sind, liegt plötzlich dieses große Areal, das frei begehbar ist. Die Fabrik selbst wird, so stand es auf einer Tafel, seit Jahren renoviert. Doch so wie es aussah, kamen sie nicht recht vorwärts damit.

Ich machte eine Zeichnung, man hörte leise die Arbeitsgeräusche von dem metallverarbeitenden Betrieb nebenan. Es war ein Geräuschteppich der eine gelassene gleichmäßige Betriebsamkeit vermuten ließ. Am Gelände der ehemaligen Hutfabrik selbst rührte sich nichts. Eigenwillig und stark steht das Gebäude, teils von Gras umwachsen. Die Innenräume, soweit ich hineinsehen konnte, sind lichtdurchflutet. Ein kultiviertes Arbeitsambiente, Räume die dazu einladen, das Beste zu geben und zugleich ein fühlender Mensch zu bleiben.

HutfabrikLuckenwaldeZeichnung

Jüterbog ist ein beliebtes Ausflugsziel für Berliner. Mit dem Auto ist man in etwa 40 Minuten hier. Reste der mittelalterlichen Stadtmauer, Türme, schöne Häuser und die Nikolaikirche. Sie ist gotisch, die Gewölbemalereien und einige Fresken sind liebevoll retuschiert. Hier erahnt man die große Buntheit, die der Gotik eigen war. Das himmlische Jerusalem, die Fröhlichkeit der Gewissheit im Glauben. Hinter dem Alter gibt es einen Rundgang, hier sind mittelalterliche Skulpturen präsentiert. Und ich dachte bei mir, vielleicht auch angeregt durch das vortreffliche Spiel des anwesenden Organisten, dass die großartigsten Kunstwerke doch jene sind, die im tiefsten Glauben entstanden.

NikolaiJüter

NikolaiJüterbog

Die Künstler damals schrieben ihre Namen ja noch nicht in ihre Werke ein. Sie dienten dem Gesamtkunstwerk und so wurde jedes Detail achtsam und liebevoll ausgearbeitet.

Welch ein Unterschied zu den Arbeiten der Cranach Werkstätten, die zwar höchste Kultiviertheit und Qualität produzierten, aber im direkten Vergleich mit den Arbeiten in der Nikolaikirche doch oft Propaganda- oder Verkaufsware blieben. Mit Ausnahme von den Meisterstücken, wie dem Cranach Altar in der Stadtkirche Wittenberg.

Beim Wandern findet man immer wieder kuriose Dinge.

Bahnanlage

Im Wald kam ich an drei Schuhen in Bäumen vorbei. Ich kenne das von Nordzypern. Immer wieder traf ich dort auf Schuhe auf Aststümpfe in Bäumen oder auf Zaunpfähle gesteckt. Der Schuh im arabischen Raum heißt ja Verachtung, wenn er geworfen wird wie bei uns eine Tomate. Hat das damit zu tun? Oder gehört er letztlich doch zum Körper und man kann ihn nicht einfach wegwerfen? Ich muss dieser Spur erst nachgehen. Aber sofort dachte ich, dass es vielleicht Flühtlinge gewesen sein könnten, die hier vorbei gekommen sind. Wenn jemand von meinen Lesern darüber etwas weiß, so bitte ich darum, mir das mitzuteilen.

OldShoe3

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Den langsamen Wechsel des Sprachgebrauchs bekommt man beim Wandern sehr gut mit. War es in Leipzig und Umgebung das NU – was viel bedeuten kann. Wie zum Beispiel o.k., na was nun? oder auch Geht in Ordnung. So war in Wittenberg plötzlich das J präsent: Jut. Jeet jut… In Luckenwalde dann hörte ich das erste Icke. Ein Wort, das mir besonders gut gefällt. Weil dieses Ich in Form des Icke eine Ecke in sich trägt. Also eigentlich über das bloße ich hinausweist. Die anderen vielleicht sogar mitbedenkt. Zumindest scheint mir das so, wenn ich es mit dem englischen I vergleiche. Ein einziger Buchstabe. I. Solitär. Absolut. Dagegen wirkt Icke offen. Da hat noch mehr Platz, daran kann man andocken.

Der Weg von Luckenwalde nach Beelitz führte erst lange entlang der Straße, dann jedoch durch einen Föhrenwald (Föhre = Kiefer). Das ist der hier vorherrschende Baum. Ein Herr hatte mir schon am Vortag erklärt, dass das südliche Brandenburg ein Trockengebiet ist. Hier stehen Föhren, dazwischen Lärchen, Birken und Eichen und das alles auf sandigem Boden. Der Weg durch diesen Wald war zum Teil mit Bachsteinen befestigt, dazwischen lagen mehrere Zentimeter hoher Sand. Jeder Schritt war deshalb sehr anstrengend. Doch es war still. Nur die Vögel brillierten. Mich umgab eine mediterrane Stimmung, dieser Weg hätte ebenso in Italien, in Griechenland oder in Spanien sein können. Ein sehr besonderer Ort. Und ich traf keinen einzigen Menschen.

ForchatWeg

Durch Beelitz müde hindurch und bis zum Bahnhof. Ein sehr netter Journalist der Zeitung Märkische Allgemeine kam mit der Bahn zu mir nach Beelitz um einen Bericht über meine Tour zu machen. Mein Quartier war noch gute 5 Kilometer entfernt. Ich setzte mich auf einer Bank beim Bahnhof und schrieb auf meinem Notebook.
Schon jetzt, obwohl noch nicht einmal ganz bei der Halbzeit meiner Reise angelangt, kann ich sagen, der wahre Triumph für mich auf dieser Reise ist es, dass ich mittlerweile schon fast überall arbeiten kann.
Ich fühle mich nicht mehr heimatlos. Sehr oft bin ich in einer Stimmung, wie ich sie zuletzt in meiner Jugend hatte. Als ich fast täglich und viele Stunden lang durch den Wald und über die Felder streifte, ohne Ziel, den Skizzenblock und die Schreibsachen immer dabei.

Der Mensch geht vorwärts und wieder zurück.

Inschrift02



Maria Peters, 29. Juni 2016


6 Kommentare

  • thomas parth sagt:

    Liebe Maria,
    da möchte man ja mitgehen oder auch einmal diese Wege gehen oder einfach weiterlesen … am liebsten einfach alles!
    Danke für Deine Berichte
    Thomas

    • Maria Peters sagt:

      Lieber Thomas
      Ja, das kann ich nur jedem ans Herz legen, diese Regionen zu bereisen. Hier liegt noch eine Ruhe über dem Land.
      Schön, dass Du mitliest!
      Bis in ca einem Monat
      Maria

  • Rudi sagt:

    Liebe Maria,
    danke für Deine wunderbaren Schilderungen. Was Du schreibst, hat schon wirklich Jünger´schen Tiefgang, besonders beim Betrachten des Wortes „Icke“.
    Werde Dich noch heute anrufen!
    Auf bald
    Rudi

    • Maria Peters sagt:

      Lieber Dichterfreund

      Der es ja war, vor einigen Jahren, der mich ermutigte zu schreiben. Ich freue mich über Dein Lob! Und höre gerne Deine Stimme.
      Until we meet again
      Maria

  • Helmu tSchiestl sagt:

    Hat mir sehr gefallen, dieser Text. Vor allem die Geschichte mit der Sanduhr finde ich stark. Ich beschäftige mich ja auch immer wieder mit Uhren, habe auch schon mehrere Texte darüber geschrieben. Wenn ich mal in diese Gegend komme, werde ich mir diese Sanduhr unbedingt anschauen! Wünsche Dir noch viele schöne und inspirierende Eindrücke!

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