Bis an den Rand der Welt 02 – Hidden Places

Belinda Nachfolgerin 19, 28. Juni 3255

Ich war verliebt. Aber Alexej ist vergangene Woche untergetaucht. Es gibt das Gerücht, er sei in eine entlegene Gegend gezogen. Irgendwo in Arizona. Dort haben sich viele zurückgezogen, so heißt es, und leben jenseits von Versorgung und Zivilisation. Viele sollen dort verhungern oder an Krankheiten sterben. Aber trotzdem klingt verführerisch, was man hört. Es soll dort auch viel Kunst und frei lebende Tiere geben.

Aber ich kann mich nicht entschließen, dorthin zu gehen. Ich habe keine Lust, um mein nacktes Überleben zu kämpfen. Ich weiß ja von meinen sehr frühen Nachfolgerinnen wieviele Ängste und Probleme sie hatten. Es war ein primitives Leben.
Hier dagegen, heute, habe ich alles und viel Spaß.

Auch bereitet es mir und meinen Freunden Freude, den optimierten Klonen in ihren Vierteln zuzusetzen. Oft schwärmen wir aus, am liebsten in der Nacht, machen Krach, evozieren Chaos. Dazu wurde ich ja schließlich auserwählt. Und wenn ich schon unoptimiert existieren muss, will ich wenigstens den Triumph, dass ich Unruhe stifte.


Die Optimierten sind alle schön, gelassen und klug.
Ich dagegen brauche Liebe und Anerkennung, das quält mich. Ich könnte mir Nanoroboter einsetzen lassen, dann wäre ich den Optimierten ähnlicher. Aber ich hätte das Gefühl, Verrat zu begehen. Die Gemeinschaft lehrte mich, dass es wichtig ist, dass ich das Menschliche in mir entwickle, dass ich den noch nicht geklonten, den bisher erst leicht optimierten Menschen Mut mache Mensch zu bleiben.

Und außerdem ist der Zauber in uns Nachfolgerinnen ohnehin letztlich resistent gegen die Optimierungen, es bricht immer wieder der alte Mensch in uns durch. Deshalb auch waren einige Nachfolgerinnen vor meiner Zeit oft unglücklich.
Doch unsere Klon-Linie soll weiterbestehen, meint die Gemeinschaft, und versucht damit, dem Netzwerk Widerstand zu leisten.
Ich bin also eine unfreiwillige Rebellin.
Aber erlebe immerhin wieder intensiv, das ist gut.

In den letzten Tagen habe ich gemeinsam mit meinen Freunden einen zugeschütteten Tunnel gefunden. Er ist gut 1000 Jahre alt. Natürlich wusste ich bereits, dass es ihn gibt, die Erinnerung an diesen Ort ist von Nachfolgerin 08 übertragen worden. Aber ich spielte meinen Freunden vor, dass es ein Zufallsfund sei.

Der Tunnel (damals nannten sie diesen Ort Subway) stammt aus der Zeit, als unsere Stadt noch New York hieß. Heute haben unsere Städte keine Namen mehr. Es gibt ja auch nur mehr zehn Städte – zwei pro Kontinent. Das ist wesentlich ökonomischer, denn zwischen den Städten lassen wir alles naturbelassen. Unsere Städte sind aber weniger dicht, als das zur Zeit dieses wiedergefundenen Tunnels der Fall war. Heute gibt es Gärten und Brachen zwischen den Wohngebieten.

Wir graben diesen Tunnel nun wieder aus. Er war künstlerisch gestaltet, keiner weiß den Namen dieses Künstlers mehr. Ich kann mich im Moment nur mehr daran erinnern, dass es ein Mann war. Aber das war in der damaligen Zeit ja normal, da waren die Frauen immer in der zweiten Reihe. Ich forciere diese Ausgrabung, vielleicht fällt mir der Name wieder ein. Diese Arbeit gefällt mir. Sie ruft weitere und sehr alte Erinnerungen in mir wach. An Nachfolgerin 07 zum Beispiel, die Anfang der 60iger Jahre des 20. Jahrhunderts einige Jahre mit einem Wanderzirkus zwischen München und Arco durch die Gegend zog. All ihre Erinnerungen kommen zurück.
Außerdem beschäftigt mich diese Ausgrabung. Wir müssen ja nicht arbeiten, also müssen wir uns irgendwie beschäftigen.
Nur Chaos stiften ist auch langweilig.

 



Belinda Nachfolgerin 19, 28. Juni 3255


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